Neid ist ein ausgeprägter menschlicher Instinkt: Warum kassieren Investmentbanker absurde Millionen-Bonuszahlungen – und stürmen stets im Advent Ferrari-Dealer, köpfen bei rauschenden Weihnachtsparties $1.000-Schampusflaschen und schnappen millionenteurere Designer-Condos in einem für alle anderen immer unerschwinglicheren Markt auf? “Banker müsste man sein”, scherzte ich, jawohl, etwas neidisch, noch im Vorjahr. Da hatte der Glitzerbranchen-Santa gerade noch 38 Milliarden Dollar an die Mitarbeiter ausgeschüttet. Ho! Ho! Sehr weitsichtig jedenfalls: Die Subprime-Krise kam da gerade, vor zehn Monaten, so richtig in Schwung. Und natürlich hatte bereits jeder aufgehört zu verstehen, wer wem was schuldet. Ein befreiendes Gefühl.
Alarmstufe Rot am Drudgereport: „Meltdown“
Genau weiß das immer noch niemand. Doch die letzten Tage zeigten: Es ist wohl eine Menge. Sonntags, dem neuen „Black Sunday“, schleppten Hunderte der insgesamt 10.000 New Yorker “Lehman”-Angestellten Kartons mit ihren persönlichen Schreibtisch-Utensilien durch die Glastüre des futuristischen Headquarters in Midtwon Manhattan. Wegen des arbeitsfreien Sonntags hatten sie Maßanzug mit Shorts und T-Shirts getauscht, bis zuletzt “auf eine Rettung gehofft”, wie Mitarbeiter erzählten. Die furchtbare Nachricht wäre als Email auf den BlackBerrys gelandet: “Aus und vorbei!” Zwei Monate Gehalt wurden noch ausbezahlt, die Arbeitsplätze mussten sofort geräumt werden. Angestellte beschrieben die Stimmung gegenüber der NY Post als “ruhig”: Viele aßen Pizza, dranken Bier, hieß es. Der Eingang wurde bereits von der Weltpresse belagert.
613 Milliarden Dollar bezifferten Lehmans Anwälte die Außenstände in ihrer eingereichten “Chapter 11”-Bankrotterklärung. 613 Milliarden Dollar! Klar scheint nun auch, warum die “Feds”, die im März noch für die Fehlspekulationen mit Subprime-Ramschkrediten von “Bear Stearns” geradestanden, diesmal die Hände gebunden waren. “Die können nicht mehr”, erzählt mir Börsenguru Heiko Thieme am Telefon, als der Dow gerade binnen Minuten 300 Punkte nach unten stürzt: “Die Bilanzblätter der Supermacht sind durch die jüngsten Garantieerklärungen für die Mortage-Giganten Freddie und Fannie bereits so versaut, dass Amerika für zusätzliche Finanzlöcher nicht mehr gerade stehen kann”. Gemahlin Estee hatte recht: “Amerika ist pleite”, hatte sie trocken gesagt.
Die Bush-Regierung – die selbst die Geister nicht mehr los wird, die sie durch ihr Forcieren riskanter Investments für ihre herbeigeträumte “Eigentümer-Gesellschaft” rief – war froh, dass zumindest Merrill Lynch durch einen $40-Mrd.-Zwangsmerger mit der BofA nicht auch noch stürzte. Der Deal kam so hastig zustande, das Merrill-CEO John Thain noch nicht einmal eine „Job Description“ bei einer Pressekonferenz nennen konnte. Als “Big Five” waren New Yorks Investmentbanken seit mehr als einem Jahrhundert weltweit berühmtberüchtigt, überlebten Weltkriege und die “Great Depression”: Jetzt sind nur mehr zwei übrig, “Goldman Sachs” und “Morgan Stanley”. Und das alles wegen gierigem Herumspekulieren mit einem geradezu perversen Pyramidenspiel aus Hauskrediten für Joe Sixpack. Die “Finanz-Tsunami” (NBC-TV) rast ungehindert weiter: Beim Versicherungsgiganten A.I.G. klafft ein $100-Mrd.-Loch, falls ihn die Ratings-Agenturen wie erwartet runterstufen. 40 % stürzten die AIG-Aktien.
Nach dem Telefonat mit Thieme, sonst selbstdeklarierter, letzter Optimist an der Wall Street, werde auch ich panisch (sogar ohne jegliche Investments…). Diesen Tag, den 15. September 2008, könnten wir im Kalender bereits als historisch markieren, sagt er: “Der Tag an dem die Welt den Atem anhielt”. Selbst Thieme gehen nun fast die Superlativen beim Fassen der “größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte” aus: Move over, Great Depression! Die Explosion der Derivatgeschäfte, die heute das zehnfache des Weltbruttosozialproduktes ausmachen, seien, wie er Guru Warren Buffett zitiert, die wahren “Massenvernichtungswaffen” unserer Zeit. Vor einem “Kategorie-Fünf-Test unserer finanziellen Dämme” warnte das Wall Street Journal in blumigen Hurrikan-Jargon. Doch zum Schluss kommt doch noch Optimist Thieme zum Vorschein: Allein an diesem Tag, „9/15“, dabei gewesen zu sein, sei eine “wertvolle Lektion fürs Leben”. Veranschaulicht werde, wie dramatisch und verheerend heute Finanzblasen platzen.